4.1. Die Konzeption der kritischen Ontologie


In der Metaphysik der Erkenntnis hat Hartmann mit seinem kritischen Realismus das Fundament für seine Ontologie der realen Welt gelegt. Wesentliche Gedanken seiner Konzeption der Ontologie als Kategorienlehre hat er in seinem programmatischen Aufsatz „Wie ist kritische Ontologie möglich?“ (1923) veröffentlicht. Die endgültige Gestalt hat seine ontologische Konzeption vor allem in den beiden Werken Grundlegung der Ontologie (1935) und Aufbau der realen Welt (1940) erhalten. Hartmanns Bemühungen um eine Erneuerung der Ontologie müssen im Kontext von der zeitgenössische philosophischen Strömungen gesehen werden. Dies ist zunächst der Neukantianismus, gegen dessen idealistische Kategorienlehre Hartmann sich abzugrenzen versucht; sodann gibt es verschiedene Versuche, die auf der Basis einer realistischen Erkenntnistheorie Ontologie zu rehabilitieren versuchen, und schließlich gehören dazu die phänomenologischen Ontologiekonzeptionen Husserls und Heideggers.

4.1.1. Die Ontologiekonzeptionen des Neukantianismus

Für den Neukantianismus gibt es keine Ontologie der realen Welt, sondern nur eine Logik der Denkformen. Die südwestdeutsche und die Marburger Schule stimmen darin überein, dass die transzendentale Logik Kants im Sinne einer idealistischen Kategorienlehre die traditionelle Ontologie abgelöst hat. Die Differenzen beider Schulen kommen erst innerhalb dieses idealistischen Rahmens durch ihre verschiedene wissenschaftliche Orientierung zur Geltung. Während Cohen, Natorp und der junge Cassirer die Analyse der Grundbegriffe der exakten Naturwissenschaften betreiben, sind Windelband und Rickert auch und vor allem an den Geistes- und Kulturwissenschaften orientiert und bemühen sich um die Herausarbeitung der methodischen Differenzen zwischen Natur- und Kulturwissenschaften. Vorsichtige Schritte von einer Logik zur Ontologie finden sich aber bei Emil Lask und dem späten Heinrich Rickert.

4.1.1.1. Emil Lask

In Übereinstimmung mit den Grundanschauungen der südwestdeutschen Schule des Neukantianismus hat Emil Lask in seinen beiden Werken Die Logik der Philosophie und die Kategorienlehre (1911) und Die Lehre vom Urteil (1912) die Logik der exakten Wissenschaften durch eine Logik der nicht-sinnlichen „Geltungsshäre“ zu ergänzen versucht. Die unter dem Einfluss Kants erfolgte Restriktion auf die Sphäre des Sinnlich-Anschaulichen und damit auf eine Logik der naturwissenschaftlichen Erkenntnis soll damit überwunden werden. (vgl. Lask 1911, S.15, 20) Während Lask im Sinne der metaphysikkritischen Intentionen des Neukantianismus das metaphysische Gebiet des Übersinnlichen ausklammert, hält er das nicht-sinnliche Reich der zeitlos gültigen Gedanken und Werte einer philosophischen Analyse für zugänglich. Alles Denkbare zerfällt nach Lask somit Sphären der Wirklichkeit und der Werte. Der damit verbundene Dualismus wird nach seiner Ansicht verständlicher, wenn auch die Kategorien der nicht-sinnlichen „Geltungssphäre“ herausgearbeitet sind. (vgl. Lask 1911, S.2f, 12, 22; vgl. H.-L. Ollig 1979, S.113) - Lasks „Logik des Geltens“, die sich auch auf Husserl stützt, nimmt eine Thematik in Angriff, die im Zentrum von Hartmanns Theorie des idealen Seins steht. Sein Dualismus von Wirklichkeit und Werten entspricht formal Hartmanns Unterscheidung von realem und idealem Sein, doch ist Lasks Kategorienlehre idealistisch konzipiert.

Wenngleich Lask der Kategorienlehre ein neues Gebiet erschließen möchte, hält er an der (durch die kopernikanische Wende Kants charakterisierten) idealistischen Grundposition fest. Jede Gegenständlichkeit ist durch kategoriale Verstandesaktivitäten konstituiert; in jeder Realität steckt somit ein theoretischer Gehalt. Die Überführung der traditionellen Ontologie in eine transzendentale Logik betrachtet Lask daher als eine bleibende Errungenschaft Kants. (vgl. Lask 1911, S.23, 27) Mit der weiteren Ausdeutung, die Lask der kopernikanischen Wende gibt, vollzieht er jedoch eine Annäherung an den Realismus. Lask grenzt sich nämlich gegen die Neukantianer ausdrücklich mit der These ab, dass nicht die Gegenstände in ihrer konkreten Ganzheit, sondern nur ihr Gegenstandscharakter durch die Kategorien konstituiert wird. Das Logische (bzw. das Kategoriale) ist daher für ihn nur die Form einer alogischen Materie. Indem Lask zugesteht, dass die logisch-kategoriale Form stets durch ein fremdes Außersich ergänzt werden muss, nähert er sich der realistischen Auffassung, dass das alogische Material selber bereits eine bestimmte Struktur haben muss. (vgl. Lask 1911, S.30ff, 39f; H.-L. Ollig 1979, S.117) - Dass Lask in seiner Kategorienlehre sich gezwungen sieht, dem alogischen Material eine bestimmte an sich bestehende Struktur zuzusprechen, hat Hartmann vermutlich als Bestätigung seines eigenen realistischen Kategorienbegriffs begriffen. Wegen seines frühen Todes schied Lask als potentieller Bundesgenosse seiner ontologischen Bemühungen jedoch aus. Während man bei Lask von einem „Kryptorealismus“ sprechen kann, ist der Realitätsanspruch der Kategorien bei Hartmann deutlich schärfer herausgearbeitet.

4.1.1.2. Heinrich Rickert

Heinrich Rickert hat sich in seinen beiden Schriften Die Logik des Prädikats und das Problem der Ontologie (1930) und Grundprobleme der Philosophie. Methodologie. Ontologie. Anthropologie (1934) mit den neuen realphilosophischen Strömungen, die ein „Zurück zu den Sachen“ bzw. eine Wende zum Objekt propagieren, kritisch auseinandergesetzt. Zugleich hat er seine systematische Konzeption diesen Strömungen doch zumindest terminologisch angepasst, wenn er nunmehr auch von Ontologie und Anthropologie spricht. Entgegen seiner früheren Unterscheidung von Sein und Gelten als den beiden fundamentalen Arten des Denkbaren verwendet Rickert nun den Terminus „Sein“ als Ausdruck für alles Denkbare. Innerhalb des Seienden unterscheidet Rickert dann wie Hartmann zwischen realem und idealem (oder „geltendem“) Sein. Das reale Sein zerfällt in sinnliches und übersinnliches Sein, und das sinnliche Sein wiederum in psychische und physische Realität. Ontologie als Lehre von allem Seienden hat nun nach Rickert die Aufgabe, die grundlegenden Seinsformen zu untersuchen. Diese Aufgabe unterscheidet sich grundlegend von jeder philosophischen Synthese einzelwissenschaftlicher Resultate. Ontologie bedient sich zwar auch der Erfahrung, doch nur insofern, als sie die verschiedenen Seinsformen als gegeben zur Kenntnis nimmt. (vgl. Rickert 1930, S.6ff, 167ff; Rickert 1934, S.33) Heidegger und Hartmann waren für Rickert die großen Herausforderungen der zeitgenössischen Philosophie.

Wenngleich Rickert sich den zeitgenössischen ontologischen Ansätzen in gewisser Weise annähert, wendet er sich doch entschieden gegen die Versuche, der Ontologie den Primat vor der Erkenntnistheorie einzuräumen. Er weist die Kritik, dass der Neukantianismus nur Erkenntnistheorie gewesen sei, als Vorurteil zurück, erkennt jedoch das Ziel der neuen philosophischen Bemühungen um eine Ontologie im Sinne einer Lehre von der Welt in ihrer Totalität ausdrücklich an. (vgl. Rickert 1930, S.15ff) Als verfehlt betrachtet er jedoch alle Versuche, Erkenntnistheorie durch Ontologie zu ersetzen. Im Gegensatz zu den partikularen Weltsichten der Einzelwissenschaften könne die Philosophie auf erkenntnistheoretische Reflexionen nicht verzichten. Versuche man nämlich eine Ontologie zu entwickeln, so dürfe man das erkennende Subjekt, das irgendwie zur Welt hinzugehöre, nicht ignorieren. Erkennen ist daher für Rickert, ganz wie für Hartmann, selber eine Form des Seins. (vgl. Rickert 1934, S.26f) Der Verzicht auf Erkenntnistheorie führt nach Rickert nur allzu leicht zu verfehlten phänomenologischen oder intuitionistischen Auffassungen von Erkenntnis, so als ginge es nur darum, auf alle Vorurteile und Konstruktionen zu verzichten, damit das Seiende sich von selbst so zeige, wie es an sich sei. Rickert bezieht sich dabei vor allem auf Heidegger, dessen Erkenntnistheorie er als verfehlt kritisiert. Nicht der Verzicht auf Erkenntnistheorie, sondern lediglich das Zurückdrehen ihres dominanten Einflusses steht für ihn ernsthaft zur Debatte. Als Hauptvertreter einer solchen gemäßigten Auffassung betrachtet er Nicolai Hartmann. Dessen These, dass es ebenso wenig eine Erkenntnisfrage ohne Seinsfrage wie eine Seinsfrage ohne Erkenntnisfrage geben könne, stimmt Rickert ausdrücklich zu. Erkenntnistheorie bleibt für ihn zwar insofern der Anfang der Philosophie, als von dem Gegenstand der Philosophie, d.h. dem Weltganzen, zunächst ein Vorbegriff erarbeitet sein muss, bevor ontologische Analysen vorgenommen werden können, doch gehören Erkenntnistheorie und Ontologie für ihn gleichwohl untrennbar zusammen. (vgl. Rickert 1930, S.20ff, 157ff, 178; Rickert 1934, S.28f) Mit dieser Auffassung des Verhältnisses von Ontologie und Erkenntnistheorie hat Rickert sich weitgehend Hartmann angeschlossen.

Auch in einigen weiteren Punkten lehnt Rickert sich an Hartmann an. So stimmt er zunächst Hartmanns Auffassung der Unvermeidlichkeit von Ontologie zu. Von formaler Logik abgesehen, sei alles Erkennen eben auf Seiendes gerichtet. Ja, er glaubt mit seiner „Logik des Prädikats“ Hartmanns Auffassung, dass alle Erkenntnis Seinserkenntnis ist, sogar begründet zu haben. (vgl. Rickert 1930, S.174) Rickert schließt sich ferner Hartmanns Kritik voreiliger Systembildung an. Und ganz wie Hartmann betont er, dass das Ziel der Philosophie ein System sei, da sich die Ganzheit der Welt nur durch ein Ganzes von Gedanken erfassen lasse. Da ein systematisches Philosophieren jedoch stets Platz für neues Material lassen müsse. könne es sich dabei nur um ein offenes System handeln. (Vgl. Rickert 1934, S.24) Wie Hartmann wendet sich Rickert auch gegen jeden voreiligen Seinsmonismus, doch während Hartmann die Vielfalt im Rahmen einer geschichteten Realität anerkennt, geht es Rickert um den Pluralismus von Seinsformen.

Rickerts Ontologiekonzeption bleibt jedoch im Rahmen des neukantianischen Idealismus. Die idealistische Deutung der Ontologie folgt für ihn aus seiner Theorie des Prädikats, wonach „Sein“ nur als Prädikat und nicht als Subjekt auftreten darf. Indem Rickert Ontologie als Lehre von den grundlegenden Weltprädikaten fasst, erweist sich Ontologie letztlich doch als transzendentale Logik. (vgl. Rickert 1930, S.156, 163f) Idealistisch bleibt dieser Ansatz, weil die unvermeidliche Subjektbedingtheit allen Erkennens (und Prädizierens) eine transzendente Geltung der Erkenntnisformen ausschließen soll. Das Prädikat „Realität“ hat nach Rickert immer nur Bedeutung als Prädikat einer Aussage eines erkennenden Subjekts. (vgl. Rickert 1934, S.51ff) Trotz seiner thematischen und terminologischen Annäherungen an die neue Ontologie bleibt Rickerts Ontologie idealistische Kategorienlehre. Hartmann hat sich mit den ontologischen Anwandlungen des späten Rickert offenbar nicht mehr auseinandergesetzt. Vermutlich betrachtete er sie als vergebliche Versuche des Neukantianismus, den Idealismus durch terminologische Kosmetik am Leben zu erhalten.

4.1.2. Realistische Ontologiekonzeptionen

4.1.2.1. Hans Pichler

Auf seinem Weg zu Realismus und Ontologie erhielt Hartmann, nach eigenem Bekunden, durch zwei kleine Schriften von Hans Pichler, einem heute vergessenen Schüler Meinongs, wichtige Anregungen. In seiner Schrift Über die Erkennbarkeit der Gegenstände (1909) entwickelte Pichler eine Konzeption, von der er (nach Fertigstellung der Schrift) zu seinem Erstaunen feststellte, dass sie sich vollkommen mit der Lehre Christian Wolffs von der „ratio sufficiens“ deckte. (vgl. Pichler 1909, S.6, 88f) Daher versuchte er in seiner nächsten Schrift Über Christian Wolffs Ontologie (1910) zu zeigen, dass Wolffs Ontologie und Meinongs Gegenstandstheorie als Wissenschaften von den Gegenständen überhaupt völlig übereinstimmen. (vgl. Pichler 1910, S.91) In einem Brief an Heimsoeth bezeichnet Hartmann Teile von Pichlers erster Schrift als „wirklich auswendiglernenswert“ (Br 129), und noch im Vorwort seiner Grundlegung der Ontologie (1935) lobt er Pichler als den einzigen, der das „Seinsproblem wirklich getroffen“ habe. (GdO VIII) Dieses Lob ist umso bemerkenswerter, als Hartmann alle anderen zeitgenössischen ontologischen Ansätze, wobei er auf Hedwid Conrad-Martius, Alexius Meinong, Günther Jacoby, Scheler und Heidegger verweist, als bloße „Ankündigungen der kommenden Ontologie“ betrachtet und ihnen allesamt schon ein Scheitern im Ansatz bescheinigt. (GdO VIIf) Trotz dieses Lobs ist es jedoch keineswegs leicht zu erkennen, worin die Bedeutung Pichlers für Hartmanns ontologische Konzeption liegt.

Das Grundanliegen Pichlers ist es, gegen alle Formen des Kantischen Subjektivismus die gegenstandstheoretische Auffassung Meinongs zur Geltung zu bringen. Daher möchte er zeigen, dass die Möglichkeit der Erkenntnis von Gegenständen Seinsgründe voraussetzt und dass die Gegenstände, da sie sich weder begrifflich noch anschaulich adäquat erfassen lassen, immer mehr sind, als von ihnen erkannt werden kann. (vgl. Pichler 1909, S.5,7f) Wahrhafte Erkenntnis liegt daher nicht in der bloßen Beschreibung eines Gegenstandes, sondern im Erfassen seiner Seinsgründe. Auch empirische Regelmäßigkeiten wie etwa die elliptische Bahn der Planeten können kontingent sein, solange nicht der Seinsgrund dieser Regelmäßigkeit nachgewiesen ist. (vgl. Pichler 1909, S.19, 89) - Hartmanns Anerkennung der Leistung Pichlers bezieht sich vermutlich vor allem auf die Herausstellung der ontologischen Voraussetzungen der Erkenntnis. Pichlers These, dass die Gegenstände mehr sind, als von ihnen erkannt wird, findet in Hartmanns These des übergegenständlichen Charakters der realen Gegenstände ihre Parallele. Pichlers Erneuerung der klassischen Auffassung, dass zur wahrhaften Erkenntnis des Seienden auch die Erfassung der Gründe desselben gehört, hat sich Hartmann freilich nicht angeschlossen. Eine solche Abwertung einer bloß beschreibenden Erfassung des Realen ist ihm als Sympathisanten der Phänomenologie fremd.

Der Realitätsanspruch der Erkenntnis wird von Pichler besonders herausgestellt. Kategorien sind für ihn Grundbestimmtheiten der Gegenstände, die als konstitutive Eigenschaften den Gegenständen überhaupt zukommen. (vgl. Pichler 1909, S.19) Die Erkennbarkeit der Natur ist durch ihren Systemcharakter bedingt. Denn nur als geordnete, strikt determinierte Ganzheit von Dingen und Ereignissen ist die Natur der Erkenntnis zugänglich. Hätte die Welt keine Ordnung, dann könnte es auch keine allgemeinen Wahrheiten geben. (vgl. Pichler 1909, S.79, 99) Nicht nur die Realität der Welt, sondern auch ihre an sich bestehende Gesetzlichkeit ist nach Pichler also eine ontologische Voraussetzung der Erkennbarkeit der Welt. - Die Bedeutung Pichlers für Hartmanns philosophische Entwicklung liegt damit in erster in seiner Begründung des Realismus als Voraussetzung der Ontologie. Pichler dürfte damit Hartmann Neigungen zu Realismus und zu Ontologie wesentlich bestärkt haben. Außerdem wurde Hartmann, wie er selber betont hat, durch Pichlers Wiederentdeckung der Ontologie Wolffs in seiner eigenen Hochschätzung für Wolff bestärkt. (GdO VIII)

4.1.2.2. Oswald Külpe

Im Zuge seiner Vorarbeiten für den dritten Teil seines Hauptwerkes Die Realisierung hat Oswald Külpe in der Abhandlung „Zur Kategorienlehre“ (1915) die Grundzüge einer realistischen Kategorienlehre skizziert. Sein Hauptgegner ist die phänomenalistische These der Unerkennbarkeit der Realität. Indem Külpe den realistischen Begriff der Erkenntnis als Erfassen eines an sich Seienden verteidigt, geht es ihm darum, einen realistischen Kategorienbegriff zu rechtfertigen. (vgl. Külpe 1915, S.2) Kategorien sind, wie Külpe im Anschluss an Aristoteles behauptet, zunächst zwar Begriffe (von Grundbestimmungen von Gegenständen), zugleich aber, als gültige Begriffe, die allgemeinsten Bestimmtheiten der Gegenstände selber. (vgl. Külpe 1915, S.4) Külpe betont, dass ohne die Anerkennung der objektiven Geltung der Kategorien, also ohne die Annahme von kategorialen Gegenstandsbestimmtheiten, die alte Konzeption der Kategorienlehre sinnlos werde. Außerdem hebe die idealistische Lehre der Kategorien als bloße Denkformen den Realismus der Wissenschaften auf. (vgl. Külpe 1915, S.5, 16) Indem Külpe Kategorien primär als Gegenstandsbestimmtheiten betrachtet, glaubt er eine Rückkehr zur aristotelischen Auffassung zu vollziehen. (vgl. Külpe 1915, S.31, 35) - Külpe und Hartmann versuchen also beide, den Kategorienbegriff von seiner idealistischen Okkupation zu befreien, und beide wollen damit an die alte aristotelische Tradition des ontologischen Denkens anknüpfen. Die immer Verwirrung stiftende objektsprachliche Verwendung des Ausdrucks „Kategorie“ hat Hartmann anscheinend von Külpe übernommen. Übereinstimmung besteht ferner darin, dass beide die idealistische Auffassung der Kategorien als idealistisches Vorurteil kritisieren und den Verzicht auf den Realismus der Wissenschaften als unbegründet zurückweisen.

Gegen die idealistische Kategorienkonzeption hat Külpe eine Reihe von Argumenten vorgebracht. Zunächst wendet er ein, dass sich die große Verschiedenheit der kategorialen Bestimmungen aus der Natur des Denkens allein nicht ableiten lassen, sondern dass dazu ein an sich differenziertes Material vorausgesetzt werden muss. Während sich logische Begriffe als Erzeugnisse des Denkens verstehen ließen, sei dies für die inhaltlich bestimmten Begriffe, mit denen wir die Realität begreifen, nicht möglich. (vgl. Külpe 1915, S.36f, 44) - Dieses Argument des an sich differenzierten Materials der Erkenntnis spielt in Hartmanns Rechtfertigung des realistischen Kategorienbegriffs keine besondere Rolle. Eine gewisse Ähnlichkeit damit hat jedoch seine These, dass die Kategorien des Realen durch „Substratmomente“, die sich der rationalen Analyse widersetzen, charakterisiert sind.

Ein weiteres Argument Külpes lautet, dass sich die Verschiedenheit des Geltungsbereichs der Kategorien nicht aus der Natur des Denkens allein begreifen lässt. Ohne sich auf vorgegebene Unterschiede in der Sache zu stützen, sei es unverständlich, dass die Kategorie der Substanz für die Materie, nicht aber für die Seele gelte. Jede Modifikation kategorialer Systeme nach Gegenstandsgebieten bleibe eben unverständlich, wenn Kategorien bloße Denkfunktionen seien. (vgl. Külpe 1915, S.46, 66ff) - Ein ähnliches Argument findet sich bei Hartmann allenfalls implizit, wenn er in seinen Kategorialanalysen von den empirischen Wissenschaften ausgeht. Da nämlich die Wissenschaften den Realismus voraussetzen, spricht die empirisch-wissenschaftlich begründete Differenzierung der Schichten des Realen und seiner Kategorien auch für den Realismus. Ein explizites Argument ist dies bei Hartmann jedoch nicht.

Die Anwendbarkeit der Kategorien auf die Erfahrung ist nach Külpe nur verständlich, wenn das Material der Erfahrung selber schon kategoriale Bestimmtheiten aufweist. Um eine eindeutige Anwendung der Kategorien zu gewährleisten, muss ein Wesenszusammenhang zwischen den (a priori zu erfassenden) kategorialen Bestimmtheiten (wie etwa Kausalität und Substantialität) und den anderen im Gegenstande wurzelnden (nur a posteriori zu erfassenden) Eigenschaften vorausgesetzt werden. (vgl. Külpe 1915, S.53, 56) Der Idealismus kann aber die Verbindung zwischen den kategorialen Bestimmtheiten und den übrigen Eigenschaften der Gegenstände nicht erklären. Die idealistische Auffassung vollzieht daher nach Külpe eine künstliche Trennung der kategorialen von den übrigen Gegenstandsbestimmungen. (vgl. Külpe 1915, S.66) - Hartmann betont zwar stets den Realitätscharakter der Kategorien, doch hat er auch die Anwendbarkeit der Kategorien auf die Erfahrung nicht als Argument für den Realismus verwendet. Die realistische Kategorienkonzeption Külpes stimmt mit der Hartmanns zwar grundsätzlich überein, doch finden sich in Külpes Kritik der idealistischen Kategorienlehre eine wichtige Argumente, die bei Hartmann keine besondere Rolle spielen.

4.1.2.3. Günther Jacoby

Günther Jacoby galt einst neben Heidegger und Hartmann als weiterer Hauptvertreter der neuen Ontologie in Deutschland. Als der erste Band seines großen Werkes Allgemeine Ontologie der Wirklichkeit (1925) erschien, hatte Hartmann in der Metaphysik der Erkenntnis gerade den kritischen Realismus als erkenntnistheoretische Grundlage der Ontologie begründet und in dem programmatischen Aufsatz „Wie ist kritische Ontologie möglich?“ (1923) eine realistische Kategorienlehre entworfen. Obwohl Hartmann Jacobys Ontologie gekannt hat, hat er sich mit ihr explizit kaum auseinandergesetzt. Jacoby seinerseits ist auf Hartmanns Ontologie sowohl in zwei Rezensionen aus (1938, 1941) als auch in dem 1955 erschienenen zweiten Band seines Hauptwerkes kritisch eingegangen.

Die Grundintention von Jacobys Ontologie besteht darin, den allgemeinen Begriff der Wirklichkeit als an-sich-seiender oder subjektfreier Realität herauszuarbeiten. Mit der Grundfrage der Ontologie „Was ist die Wirklichkeit an sich?“ zielt er darauf ab, die wesentlichen Merkmale des Wirklichkeitsbegriffs zu explizieren. (vgl. Jacoby 1925, S.3f, 17) Jacoby versucht zunächst, die in unserem alltäglichen Wirklichkeitsverständnis enthaltene Ontologie herauszuarbeiten. Die bei der Analyse dieser Alltagsontologie zutage tretenden Widersprüche dieser Ontologie werden für Jacoby der Ansatzpunkt, um von der alltäglichen Wirklichkeitssicht zu einer theoretisch adäquaten, an den Wissenschaften orientierten Ontologie vorzudringen. Eine apriorische Ontologie, die das Wesen der Wirklichkeit, ohne Zuhilfenahme der empirischen Wissenschaften ableiten möchte, lehnt Jacoby daher ausdrücklich ab. (vgl. Jacoby 1925, S.10ff) - In der Grundidee, dass Ontologie auf der Basis der empirischen Wissenschaften betrieben werden muss, stimmen Hartmann und Jacoby zunächst ganz überein. In ganz ähnlicher Weise betrachten beide die Weltsicht des common sense (Jacobys Alltagsontologie und Hartmanns natürliche Weltsicht) als Ausgangspunkt philosophischer Reflexion, und beide betrachten primär die Wissenschaften als die maßgebenden kritischen Instanzen. Ein Unterschied besteht hier lediglich insofern, als Jacoby sich um eine detaillierte Analyse der Alltagsontologie bemüht, während Hartmann vor allem an den ontologisch akzeptablen Inhalte der natürlichen Weltsicht und der empirischen Wissenschaften interessiert ist. So etwas wie eine ausgearbeitete Alltagsontologie, die durch die philosophische Reflexion überwunden werden müsste, gibt es bei ihm nicht.

Die Alltagsontologie ist nach Jacoby gekennzeichnet durch die Unterscheidung von Bewusstseinswirklichkeit und Außenwelt, die zwei verschiedene, sich wechselseitig beeinflussende ontologische Sphären darstellen. Diese Wirklichkeitssicht wird von Jacoby jedoch als naiv-realistisch kritisiert. Der grundlegende Mangel dieser Auffassung sieht Jacoby darin, dass das Wahrgenommene der Außenwelt mit der an-sich-seienden Außenwelt identifiziert wird. (vgl. Jacoby 1925, S.10, 80, 252ff) Damit nehme das Bewusstsein eine widerspruchsvolle Stellung in der Alltagsontologie ein: Zum einen habe Bewusstsein eine von der Außenwirklichkeit unterschiedene Eigenart, zum andern sei es aber wegen seiner Wechselwirkung mit der Außenwelt zugleich Teil derselben. (vgl. Jacoby 1925, S.252ff) Nach Jacoby lässt sich dieser Widerspruch dadurch auflösen, dass die naiv-realistische Identifikation der wahrgenommenen Außenwelt mit der an-sich-seienden Außenwelt aufgegeben wird. Das Wahrgenommene sei dann nicht mehr identisch mit dem Wirklichen, sondern es bedeute nur Wirkliches. Obwohl die Wahrnehmung durch die an-sich-seiende Außenwelt verursacht werde, gehöre die wahrgenommene Außenwelt ontologisch doch zum Bewusstsein. (vgl. Jacoby 1925, S.332ff, 338, 389) Die Alltagsontologie erweist sich damit nach Jacoby als unzulängliche Immanenzontologie, die durch die theoretisch adäquate Transzendenzontologie korrigiert werden soll. Indem das philosophische Denken, unter Zugrundelegung der empirischen Wissenschaften, die immanente Außenwirklichkeit als ratio cognoscendi der transzendenten Außenwelt begreift, kann nach Jacoby die transzendente Wirklichkeit als ihr Realgrund erdeutet werden. (vgl. Jacoby 1925, S.392) - Während Jacoby und Hartmann im methodologischen Selbstverständnis weitgehend übereinstimmen, hat doch der konkrete Ausgangspunkt Jacobys beim ontologischen Status des Bewusstseins bei Hartmann keine Parallele. Dieser Ansatzpunkt ist für den phänomenologisch orientierten Hartmann eine viel zu schmale Phänomenbasis. Im Gegensatz zu Jacoby gibt es für ihn kein mit der Stellung des Bewusstseins verknüpftes ontologisches Schlüsselproblem, aus dessen Lösung die ontologische Grundposition gewonnen würde. Zwar spielt auch bei ihm das Bewusstsein ontologisch eine wichtige Rolle, insofern es eine eigene, in ihrem Wesensgehalt noch weitgehend unerschlossene Schicht der realen Welt ist, doch hat es damit keineswegs dieselbe ontologische Zentralstellung wie bei Jacoby. Von einer ausgesprochen widersprüchlichen oder aporetischen Stellung des Bewusstseins ist im ontologischen Kontext bei Hartmann nirgends die Rede.
Im zweiten Band seines Hauptwerkes von 1955 hat Jacoby zu Hartmanns Ontologie kritisch Stellung genommen. Obgleich er zugesteht, durch Hartmann beeinflusst worden zu sein, betont er doch die Differenz zwischen seiner Ontologie der Wirklichkeit und Hartmanns kritischer Ontologie. Den Hauptunterschied sieht Jacoby darin, dass Hartmann, infolge seiner Orientierung an der Wesensschau der Phänomenologen, häufig in vordergründigen Phänomenanalysen stecken bleibe, während er selber in die „hintergründige“ an-sich-seiende Objektivität vordringe. Hartmann gelinge kein wirklicher Vorstoß in die subjektfreie Objektivität, sondern liefere bloß eine Beschreibung der Welt, wie sie erscheint, und somit keine begriffliche Erfassung der Wirklichkeit an sich. (vgl. Jacoby 1955, S.963ff) Die kritische Ontologie Hartmanns ist nach Jacoby also eine bloß phänomenologische Ontologie. Voraussetzung dieser Kritik ist Jacobys eigene Wirklichkeitssicht, die er durch eine Analyse der modernen Physik gewinnt. Während nach Hartmann die Realität durch Kategorien der klassischen Physik wie Raum, Zeit, Kausalität und Substanz bestimmt ist, sieht Jacoby darin nur eine „subjektbedingte Lehre vom realen Zeitfluss“, die er durch seine subjektfreie Lehre von der „nacheinanderlosen Zeitwelt“ ersetzen möchte. Jacoby glaubt damit, die ontologischen Konsequenzen aus der Relativitätstheorie zu ziehen. An die Stelle von Hartmanns subjektgebundener Naturphilosophie, die in ihrem phänomenologischen Intuitionismus völlig an der modernen Physik vorbeigehe, setzte er die subjektfreie Logik der Seinsbegriffe. Die Hauptdifferenzen zwischen Jacoby und Hartmann sind also vor allem in ihrer verschiedenen Stellung zur modernen Physik begründet. Während Jacoby die ontologischen Konsequenzen der Relativitätstheorie zu ziehen glaubt, ist Hartmanns Ontologie noch ganz an der klassischen Physik orientiert.

Darüber hinaus betont Jacoby eine Reihe weiterer Differenzen in ontologischen Fragen. Hartmanns Auffassung der Kategorien als Determinanten weist er als Hypostasierung zurück, und Hartmanns Lehre von der Substanz als dem Beharrenden im Wechsel will Jacoby durch die zwar ebenfalls traditionelle, aber seiner Meinung nach besser begründete Lehre von der Substanz als dem Träger ihrer Eigenschaften und der Raum-Zeit als Weltsubstanz ersetzen. Ferner lehnt er Hartmanns These von der Verschiebbarkeit von Dasein und Sosein ebenso ab wie dessen Lehre von den ontologischen Realmodi. Auch Hartmanns These vom An-sich-Sein der Ideen weist er zurück. Und schließlich entwickelt Jacoby, im Gegensatz zu Hartmann, eine theologische Ontologie. Trotz dieser Differenzen hat Jacoby aber nicht nur seine Gemeinsamkeiten mit Hartmann herausgestellt, sondern ausdrücklich auch Hartmanns Einfluss in drei zentralen Punkten anerkannt. Zunächst habe Hartmanns kritischer Realismus in der Metaphysik der Erkenntnis seine eigenen Bemühungen um eine Ontologie gefördert. Sodann billigt Jacoby Hartmanns Schichtenlehre im Ansatz, wobei er diese Lehre allerdings dahingehend fortzubilden versucht, dass einerseits die einzelnen Schichten Funktionsstufen der einen Weltsubstanz sein sollen und andererseits unterhalb der Schicht des Anorganischen noch die leere Raum-Zeit als erste Stufe stehen soll. Schließlich betont Jacoby die Gemeinsamkeiten seiner Lehre von subjektiven und objektiven Geist mit Hartmanns Auffassung. (Vgl. Jacoby 1955, S.963, 966f)

4.1.3. Die Ontologiekonzeptionen der Phänomenologie

4.1.3.1. Edmund Husserl

Der um die Jahrhundertwende einsetzenden philosophischen Bewegung, die sich um die Rehabilitierung von Ontologie und Metaphysik bemühte, hat sich auch Husserl in seinen Ideen zu einen reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie (1913) angeschlossen. Obwohl er in diesem Werk den transzendentalen Idealismus als fundamentalste philosophische Disziplin begründet, hat er doch im Rahmen dieser Konzeption auch das relative Recht einer phänomenologischen Ontologie anerkannt. Angesichts der veränderten Zeitlage verwendet Husserl auch wieder den Ausdruck Ontologie, u.a. auch deshalb, um sich von Meinongs „Gegenstandstheorie“ abzugrenzen. (vgl. Husserl 1913, S.23)

Aufgabe der Phänomenologie ist nach Husserl, durch phänomenologische Reduktion die Wesensgesetze des reinen Bewusstseins zu erforschen. Bleibt man dabei auf halbem Wege stehen, d.h. vollzieht man nur die eidetische Reduktion ohne die transzendentale, so gelangt man zu Wesenseinsichten des Realen. (vgl. Husserl 1913, S.4, 117) Wird in dieser Weise das Wesen der objektiven Realität untersucht, ohne den Übergang zur transzendentalen Reflexion zu vollziehen (wonach sich alles objektive Sein als konstituiert im reinen Bewusstsein herausstellt), dann betreibt man nach Husserl Ontologie als eidetische Wissenschaft vom Wesen der objektiven Welt. Ontologie basiert damit auf einer unvollständigen Reduktion und ist daher nicht die fundamentalste philosophische Disziplin. (vgl. Stegmüller 1969, S72, 76) Die Aufgabe der Ontologie ist nach Husserl die Herausarbeitung des Apriori der Wissenschaften. Wie jede Tatsache einen Wesensbestand einschließt, so schließt jede Einzelwissenschaft nach Husserl ein Apriori ein. Jede Einzelwissenschaft erweist sich damit als abhängig von einer eidetischen Wissenschaft, während es eine umgekehrte Abhängigkeit nicht gibt. Ontologie als streng apriorische Wesenswissenschaft geht nach Husserl aller Erfahrung und Erfahrungswissenschaft voraus. (vgl. Husserl 1913, S.19ff, 307ff)

Die entscheidende Differenz zwischen Husserls und Hartmanns Ontologiekonzeptionen besteht in ihrem verschiedenen erkenntnistheoretischen Status. Für den Realisten Hartmann ist Ontologie der Sache nach prima philosophia, wenngleich es für die ratio cognoscendi ein stetes Wechselspiel von erkenntnistheoretischen und ontologischen Fragen gibt. Eine weiterer wichtiger Unterschied liegt darin, dass Hartmann Ontologie als hypothetisch-analytische Disziplin versteht, da die Gesamtheit der Erfahrung und der empirischen Wissenschaften vorausgesetzt wird, um aus den gegebenen Phänomenen die Seinsprinzipien regressiv zu erschließen. (AdrW 533f) Daher kritisiert Hartmann die fehlende wissenschaftliche Orientierung der Phänomenologie ebenso wie ihre Beschränkung auf das anschaulich Gegebene. In dem analytisch-regressiven Charakter seiner Ontologie kommt Hartmanns Herkommen aus dem Neukantianismus stärker zum Tragen als der Einfluss der Phänomenologie.

Das Apriori der Wissenschaften besteht nach Husserl in formalen und materialen Wesensstrukturen. Demgemäß spaltet sich die Ontologie bei ihm in formale und materiale Ontologie. Die formale Ontologie ist die eidetische Wissenschaft vom Gegenstand überhaupt.(vgl. Stegmüller 1969, S.73f; P. Lübcke 1992, S.92ff) Die ontologischen Kategorien, die das formale Wesen jeden Gegenstandes ausmachen, zerfallen nach Husserl in syntaktische Kategorien wie Eigenschaft, Sachverhalt oder Relation und in Substratkategorien, die sich nicht auf bloße Denkfunktionen, sondern auf Wirkliches beziehen. (vgl. Husserl 1913, S.23) Jede konkrete Gegenständlichkeit gehört nach Husserl ferner einer bestimmten Region an, wie etwa den Regionen der Natur und des Geistes. Das Wesen jeder Region wird von einer regionalen oder materialen Ontologie erforscht. Jede Tatsachenwissenschaft hat daher wesentliche Fundamente in einer eidetischen Ontologie, die in synthetischen Sätzen a priori ein regionales Wesen beschreibt. Den Naturwissenschaften entspricht z.B. eine Ontologie der Natur, die das Wesen der Natur überhaupt herausarbeitet. (vgl. Husserl 1913, S.19, 31, 142)

Husserls Konzeption von formaler und materialer Ontologie findet eine gewisse Parallele in Hartmanns Unterscheidung zwischen allgemeiner und spezieller Kategorienlehre. Hartmanns Fundamentalkategorien sind jedoch, anders als Husserls Formalkategorien, keine Kategorien eines Gegenstandes überhaupt, sondern Kategorien des realen Seins. Seiner realontologischen Grundintention entsprechend, ist Hartmann an der Analyse der Kategorien der reinen Logik und des idealen Seins weniger interessiert. Freilich befasst Hartmann sich in der Metaphysik der Erkenntnis und in der Grundlegung der Ontologie auch mit den Kategorien des idealen Seins, doch ist sein realontologisches Interesse ungleich stärker ausgeprägt. Die Summe seiner Beschäftigung mit den Kategorien des idealen Seins lag vermutlich in seiner in den letzten Kriegsmonaten verloren gegangenen Logik. Die speziellen Kategorien sind demgegenüber die Themen seiner Philosophie der Natur und des Geistes. Die Hauptdifferenz zwischen Husserl und Hartmann liegt freilich in ihrer transzendental-idealistischen bzw. realistischen Grundeinstellung.

4.1.3.2. Martin Heidegger

Heidegger und Hartmann gelten als die beiden bedeutendsten Neubegründer der Ontologie in der deutschen Philosophie des 20. Jahrhunderts. Zu Beginn der 20er Jahre hatte sich Hartmann anscheinend Unterstützung von Heidegger in seinem philosophischen Grundanliegen versprochen und die Berufung Heideggers nach Marburg mitbetrieben. In ihren gemeinsamen Marburger Jahren (1923-25) kam es jedoch zu keinem regelmäßigen Gedankenaustausch. Schuld daran dürfte nicht nur ihre völlig verschiedene Arbeitsweise gewesen sein, sondern auch ihre bald zutage getretenen philosophischen Differenzen. Spätestens mit dem Erscheinen von Sein und Zeit (1927) war für Hartmann klar, dass er Heidegger zu seinen Gegnern rechnen musste. Der gegenseitige Einfluss ist zweifellos größer gewesen, als ihre Schriften offen erkennen lassen. Häufig polemisieren sie gegeneinander, ohne den Namen des anderen zu nennen. Heidegger hat sich vor allem an einigen Stellen von Sein und Zeit mit Hartmanns Erkenntnistheorie auseinandergesetzt, wenngleich Hartmanns Name dabei nur einmal erwähnt wird. (vgl. Heidegger 1927, S.208) Zu Hartmanns Ontologiekonzeption, die bis dato nur in seinem programmatischen Aufsatz „Wie ist kritische Ontologie möglich?“ (1923) vorlag, findet sich bei Heidegger an der genannten Stelle nur ein nichtssagender Hinweis. Hartmann hat sich erstmals im Nachwort zu seinem Vortrag „Das Problem der Realitätsgegebenheit“ (1931) und danach in seinem Werk
Das Problem des geistigen Seins (1933) kritisch zu Heidegger geäußert. Seine wichtigsten Ausführungen zu Heideggers Ontologiekonzeption finden sich aber in der Grundlegung der Ontologie (1935). Heidegger gehört damit neben Husserl und Scheler zu den wenigen zeitgenössischen Philosophen, auf die Hartmann in seinen Schriften überhaupt näher eingeht.

Gegen Husserls Konzeption von formaler und materialer Ontologie hat Heidegger seine Fundamentalontologie gestellt. Die Grundfrage der Ontologie zielt nach Heidegger nicht etwa auf die Wesenszüge eines Gegenstandes überhaupt bzw. der einzelnen Seinsregionen, sondern auf den „Sinn von Sein“. Gegen die traditionelle Auffassung, dass der Seinsbegriff der allgemeinste, undefinierbare und selbstverständlichste Begriff sei, wendet sich Heidegger mit der These, dass positiv-wissenschaftliches ebenso wie ontologisches Fragen naiv und blind bleiben müsse, solange die Seinsfrage nicht gestellt werde. Die Seinsfrage richte sich eben auf die apriorischen Bedingungen der Wissenschaften und der sie fundierenden Ontologien. (vgl. Heidegger 1927, S.11) Indem Heidegger die Frage nach dem Sinn von Sein als die ontologische Fundamentalfrage in Angriff nimmt, glaubt er die zeitgenössischen ontologischen Bestrebungen zu radikalisieren.

In seiner Grundlegung der Ontologie hat Hartmann unter der Überschrift „Seinsfrage und Sinnfrage“ sich mit Heideggers fundamentalontologischer Frage nach dem Sinn von Sein auseinandergesetzt. (GdO 40ff) Er unterscheidet hier drei Deutungsmöglichkeiten dieser Frage. Nach der ersten Deutung fragt die Formel „Sinn von Sein nach der bloßen Wortbedeutung von „Sein“. Eine Antwort auf diese Frage ergäbe jedoch nur eine Nominaldefinition, die ontologisch irrelevant wäre. Nach der zweiten Deutung ist nach dem Begriff von Sein gefragt, worauf als Antwort eine Wesensdefinition gegeben werden müsste. Bei allgemeinsten Begriffen sind jedoch, wie Hartmann in aristotelischem Geist betont, solche Definitionen schon aus formalen Gründen nicht möglich. In beiden Fällen wird daher nach Hartmann gar nicht nach dem Sinn des Seins selbst gefragt, sondern nur nach dem Sinn eines Wortes bzw. eines Begriffs. (III 369) Eine solche sprach- oder begriffsanalytische Aufgabenstellung ist nach Hartmann für eine Ontologie jedoch schlicht zu wenig. „Denn diese fragt nicht nach Worten und Begriffen, sondern nach dem Seiendem als Seiendem.“ (GdO 42) Die dritte mögliche Bedeutung von Heideggers ontologischer Grundfrage ist nach Hartmann teleologischer Natur. Der Sinn von Sein wäre danach die verborgene innere Bestimmung, also der Zweck des Seins. Hartmann wendet dagegen ein, dass mit einer solchen Frage eine völlig unbegründete ontologische Vorentscheidung getroffen wäre und eine so konzipierte Ontologie von vornherein verfehlt wäre. Die Frage, ob das Seiende überhaupt als Sinnträger fungieren könne, dürfe vor einer Analyse des Seinsproblems nicht einfach als positiv gelöst vorausgesetzt werden. (GdO 41f) Zu Heideggers „Umbiegung der Seinsfrage in eine Sinnfrage“ zieht Hartmann damit das Resümee: „ … die scheinbar sinnklärende Frage nach dem ‚Sinn von Sein’ ist in ihrer Vieldeutigkeit durchaus sinnverwirrend. In ihren unschuldigen Bedeutungen ist sie überflüssig, in ihrer allein gehaltvollen Bedeutung ist sie irreführend.“ (GdO 42)

Die Problematik von Heideggers Grundfrage hat Hartmann durch weitere Überlegungen zu verdeutlichen versucht. Zunächst betont er, dass auch nach dem Sinn von Sinn gefragt werden müsste, da der Ausdruck „Sinn“ ebenso klärungsbedürftig sei wie der Ausdruck „Sein“. Da ferner Sinn auch in irgendeiner Weise sein müsste - so spinnt Hartmann seine Kritik anscheinend ironisch weiter -, wäre auch nach dem „Sein von Sinn“ zu fragen. Schließlich wendet Hartmann ein, dass die Sinnfrage die Seinsfrage schon deshalb nicht ersetzen könne, weil es Sinn (in allen drei Bedeutungen) stets nur für ein Subjekt geben könne. „Ein Sinn an sich wäre Unsinn.“ (GdO 42) Seiendes stehe dagegen völlig indifferent zu der Frage, was es für jemanden sei. Hartmann sieht dagegen in Heideggers These der „Jemeinigkeit“ eine Relativierung der Welt auf den Einzelmenschen. Die damit verbundene Verkennung der Indifferenz des Seienden gegen alles Erkennen betrachtet er als die unvermeidliche Folge der Sinnfrage. (GdO VIIf, 42) Heideggers Frage nach dem Sinn von Sein führt daher nach Hartmann zur Aufhebung der eigentlich ontologischen Frage nach dem Seienden als Seienden. Den entscheidenden Fehler Heideggers sieht Hartmann darin, dass Heidegger Sein und Seinsverstehen (bzw. Seinsgegebenheit) verwechsele und Modi der Gegebenheit als Seinsmodalitäten missverstehe. Was Heidegger mit seinen Analysen daher tatsächlich liefere, seien bloße Gegebenheitsanalysen. (GdO 40f; PdgS 150) Heideggers Versuch, die Seinsfrage als Frage nach dem Sinn von Sein aufzurollen, ist daher nach Hartmann schon im Ansatz verfehlt.

Als Vorarbeit zur Seinsfrage hat Heidegger in Sein und Zeit das Sein des Menschen untersucht. Die Fundamentalontologie wird dadurch zur Existenzialontologie, die als „existenziale Analytik des Daseins“ die wesenhaften Strukturen des Menschen („Existenzialien“) erschließen soll. Der Vorrang dieser existenzphilosophisch-anthropologischen Thematik ist nach Heidegger darin begründet, dass zum Sein des Menschen Seinsverständnis gehört. Weil der Mensch immer schon über ein Seinsverständnis verfügt, sozusagen vorontologisch ist, soll er zum Ausgangspunkt der Ontologie gemacht werden. (vgl. Heidegger 1927, S.12f, 17) Um die ursprüngliche Seinsverfassung des Menschen freizulegen, muss die Ontologie nach Heidegger phänomenologisch verfahren. Das spezifische Sein des Menschen ist nämlich durch objektivierende Selbstdeutungen des Menschen gerade verschüttet. Daher kommt es darauf an, von allen wissenschaftlichen und philosophischen Selbstdeutungen des Menschen abzusehen und den Menschen in seiner durchschnittlichen alltäglichen Lebensweise zu erfassen. (vgl. Heidegger 1927, S.16, 43) Aufgabe der phänomenologischen Ontologie ist es daher, den natürlichen Weltbegriff und das ursprüngliche alltägliche Selbstverständnis des Menschen, das zumeist hinter verfehlten objektivierenden Deutungen verborgen ist, sichtbar zu machen. (vgl. Heidegger 1927, S.52) Der phänomenologischen Leitidee „Zu den Sachen selbst“ wird man nach Heidegger daher nur gerecht, wenn man von dem Vordergründigen der Phänomene gerade zu ihrem verborgenen Sinn und Grund durchstößt. Die Phänomene müssen ausgelegt werden, um wahrhaft verstanden zu werden. Indem Heidegger damit die phänomenologische und hermeneutische Methode miteinander verbindet, ja letztere als Erfüllung der ersteren zu betrachten scheint, wird seine phänomenologische Ontologie zur Hermeneutik des Daseins. (vgl. Heidegger 1927, S.35ff) Heideggers phänomenologisch-hermeneutische Ontologiekonzeption verknüpft damit im Ansatz nicht nur die aristotelische Seinsproblematik und die Thematik der Existenzphilosophie, sondern auch die Methoden der Husserlschen Phänomenologie und der Diltheyschen Hermeneutik. (vgl. Heidegger 1927, S.141)

Gegenüber dieser Verschlingung verschiedener Traditionen in Heideggers Konzeption der Existenzialontologie verbindet Hartmanns Ontologiekonzeption die aristotelische Seinsthematik mit einem von Phänomenologie und Neukantianismus beeinflussten Methodenverständnis. Obwohl Hartmann sich zu verschiedenen Komponenten von Heideggers Existenzialontologie gelegentlich äußert, hat er doch zu ihrem Grundansatz kaum Stellung genommen. Dennoch lassen sich drei Hauptdifferenzen leicht benennen.

Heideggers Versuch, das ursprüngliche Seins- und Selbstverständnis des Menschen freizulegen, basiert auf einer Auffassung von apriorischer Ontologie, die Hartmann gerade überwinden möchte. Für ihn kann es keine von den empirischen Wissenschaften unabhängige Ontologie mehr geben. Er geht daher vom alltäglichen Weltverständnis und von den Wissenschaften aus, wobei er im Zweifelsfall den Wissenschaften den Vorzug gibt. Eine solchermaßen wissenschaftlich orientierte Ontologie kann aber nur noch hypothetisch verfahren.

Zu Heideggers These, dass das ursprüngliche Seins- und Selbstverständnis des Menschen hinter objektivierenden Deutungen verborgen sei, hat Hartmann zwar nirgends Stellung genommen, doch ist in seinem Sinne zu erwidern, dass sie auf einer Vorentscheidung zugunsten eines ontologischen Dualismus von Welt und Mensch bzw. Bewusstsein und Materie beruht, die allenfalls am Ende ontologischer Analysen stehen dürfte. Zwar hat auch Hartmann der Dualität von Geist und Materie in seiner Schichtenlehre ontologisch Rechnung getragen, doch glaubt er sich damit ganz in Übereinstimmung mit den empirischen Wissenschaften zu befinden.

Eine wichtige Differenz zwischen Heidegger und Hartmann besteht schließlich in ihrem Verständnis der Methode der Ontologie. Während Heidegger die phänomenologische und hermeneutische Methode miteinander verknüpft, wenn nicht sogar identifiziert, ist Hartmann eine solche Anleihe bei der Hermeneutik völlig fremd. Beide stimmen zwar im Grunde darin überein, dass die Ontologie von den Phänomenen auf ihre Seinsgründe zurückschließen müsse, doch hat ein solches regressives Verfahren nach Hartmann nichts mit einer Auslegung zu tun. In seinem Sinne ließe sich gegen Heidegger einwenden, dass die Rede von einer „Auslegung der Phänomene“ auf einer Verwechslung von Objekt- und Begriffsebene beruht und daher bestenfalls fragwürdige Metaphorik darstellt.

Von Einzelheiten in der Durchführung ihrer ontologischen Ansätze einmal abgesehen, erweisen sich Hartmanns kritische Ontologie und Heideggers Fundamental- bzw. Existenzialontologie im Grunde durch Welten getrennt. Es war daher auch kein Zufall, dass der Gedankenaustausch zwischen beiden schon früh zum Stillstand kam.